Das Steckenpferd von Florian Lennert ist die integrierte Verkehrs- und Energiewende. Für das Berliner Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) leitet er das Intelligent City Forum, eine Koordinierungsgruppe für führende Forschungsinstitutionen in den Bereichen erneuerbare Energien, vernetzte Mobilität und intelligente Infrastrukturen. Gleichzeitig ist er auch als Projektberater auf der ganzen Welt unterwegs – ob in Berliner Kiezen oder in der chinesischen Provinz. Wir haben uns über den Wandel urbaner Mobilitätssysteme unterhalten und sind in diesem Zusammenhang unter anderem auch auf die Rolle der Autoindustrie zu sprechen gekommen.
Viktor Hildebrandt: Herr Lennert, es wird oft behauptet, dass uns aktuelle gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen dazu nötigen, unsere Städte und unser Zusammenleben darin radikal umzuorganisieren. Stimmen Sie dieser Aussage zu?
Florian Lennert: Ich bin nicht sicher, ob wir die Städte wirklich ganz so radikal umorganisieren müssen, wie es manchmal dargestellt wird. Wir werden sicherlich verschiedene Stadtsysteme umbauen müssen und in mancherlei Hinsicht wird dieser Umbau auch durchaus radikal sein. Aber in erster Linie wird es darauf ankommen, bestehende Stadtsysteme besser zu verknüpfen, um die Effizienz des Stadtgefüges insgesamt zu steigern. Nur so werden wir den immer weiter wachsenden Konsum und die immer größeren Bevölkerungszahlen bewältigen können. Lange Zeit haben wir uns im Kampf gegen den Klimawandel vorrangig darum bemüht, alle möglichen Verbrauchswerte zu reduzieren, also zum Beispiel den Benzinverbrauch von Autos oder den Energieverbrauch von Haushalten. Einsparungen in diesen Bereichen klingen zunächst vielversprechend, haben aber in der Vergangenheit nicht besonders viel bewirkt.
Warum ist das so?
Ich kann Ihnen ein Beispiel geben: In Deutschland wurde in den vergangenen Jahren sehr viel getan, um den Energieverbrauch der Haushalte zu senken. Durch eine Reihe von Maßnahmen hat man es tatsächlich geschafft, innerhalb von zehn Jahren rund zehn Prozent der Energie, die in Haushalten verbraucht wird, einzusparen. Doch das hat, wenn man sich die absoluten Verbrauchswerte ansieht, im Prinzip nichts bewirkt. Warum? Weil gleichzeitig die durchschnittliche Wohnfläche pro Haushalt um zehn Prozent gestiegen ist. Genauso verhält es sich mit dem Benzinverbrauch der Autos. Geringerer Verbrauch bringt nichts, wenn gleichzeitig mehr Autos durch die Straßen rollen und/oder die Menschen häufiger damit fahren. Heute bemühen wir uns deshalb verstärkt darum, Effizienzsteigerungen systemisch zu erzielen und nicht länger in einzelnen Silos. Das wird aber nur gelingen, wenn wir verschiedene Infrastruktursektoren besser miteinander verknüpfen. Das wird derzeit unter dem Stichwort “Sektorkopplung” hin und her diskutiert.
„In erster Linie wird es darauf ankommen, bestehende Stadtsysteme besser zu verknüpfen.“
Sie haben immer wieder betont, dass insbesondere der Umbau des Mobilitätssektors von großer Bedeutung ist. Was unterscheidet den Mobilitätssektor von anderen städtischen Infrastrukturen?
Alle städtischen Infrastrukturen sind wichtig, doch der Mobilitätssektor sticht aus drei Gründen hervor: Erstens befriedigt Mobilität verschiedene Nachfragearten. Menschen wollen sich aus unterschiedlichen Motiven durch die Stadt bewegen; aber auch Pakete, Lebensmittel und andere Produkte müssen von A nach B gelangen. Zweitens hat die Mobilität im Vergleich zu anderen urbanen Infrastrukturen einen ganz massiven Flächenverbrauch. Kraftwerke, Abwasser-, Gas- oder Stromleitungen verbrauchen deutlich weniger Platz und sind in der Stadt viel weniger präsent als Straßen- und S-Bahnen, Busse, Fahrräder und natürlich vor allem Autos mitsamt den zugehörigen Parkplätzen. Drittens geht es bei Mobilität auch um soziale Interaktion, um Begegnungen zwischen den Bewohnern einer Stadt.
Beim Umbau des städtischen Mobilitätssystems kommen nun tatsächlich einige grundlegende Veränderungen auf uns zu. Die einschneidendste dieser Veränderungen wird sicherlich der Abschied vom eigenen Pkw sein. Heute sind die Verkehrssysteme aller deutschen Städte total auf private Motorisierung ausgerichtet. Die Menschen haben sich über Jahrzehnte daran gewöhnt und es fällt ihnen nun schwer, sich von dem Anspruch auf das eigene Auto zu lösen, obwohl dies objektiv betrachtet aus vielen Gründen überaus sinnvoll wäre. Emotionalität ist ein weiterer Faktor, der die Mobilität von anderen Infrastrukturen unterscheidet. Viele Leute lieben ihr Auto; aber es gibt wohl nur wenige Menschen, die sich mit ihren Steckdosen oder dem Wasserhahn verbunden fühlen. Ob wir katastrophale Folgen für die Umwelt und die Städte verhindern können, wird davon abhängen, wie schnell sich die Menschen – nicht nur hier in Deutschland, sondern auch und insbesondere dort, wo sich das Auto gerade erst massenhaft verbreitet – von dem Anspruch auf und dem Wunsch nach einem eigenen Auto befreien können.
Sie sprechen von einem Paradigmenwechsel. Weg vom eigenen Auto – aber wohin?
Hin zu einem neuen Mobilitätssystem, das öffentlichen und privaten Verkehr nicht länger als Gegensätze versteht, sondern beide Systeme integriert und intelligent miteinander verknüpft. Hin zu einem Mobilitätssystem, das außerdem verstärkt auf kleine, leichte und filigrane Vehikel setzt, die sich besser mit Fahrrädern und Fußgängern vertragen als heutige Autos.
Einerseits werden öffentlicher und privater Verkehr nicht länger zwei sich (quasi) gegenseitig ausschließende Alternativen darstellen. Heute haben die meisten Leute entweder ein Auto oder ein Abo für den ÖPNV. In Zukunft sollten auch die Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs – also in Berlin zum Beispiel die BVG – über eine Flotte von Leihwagen verfügen, um die individuelle Mobilität über die U-Bahn-Station hinaus zu sichern. Das wäre jedenfalls deutlich effizienter als ein Markt, in dem sich ein bis zwei Dutzend Carsharing-Anbieter, die alle ihre jeweils eigene Flotte unterhalten, um Anteile streiten. Außerdem könnte dadurch der öffentliche Nahverkehr ganz gezielt gestärkt werden. Das wäre übrigens ein klassischer Fall von systemischer Effizienzsteigerung, wie wir sie gerade besprochen haben.
Gleichzeitig werden sich die Vehikel der Zukunft stark vom heutigen Pkw unterscheiden. Autos waren ja ursprünglich für Reisen von einer Stadt in die andere gedacht und nicht für den innerstädtischen Verkehr. Doch leider haben wir zugelassen, dass Pkw auch durch die Innenstädte rollen, obwohl sie dafür eigentlich völlig ungeeignet sind. Es ist für mich unbegreiflich, dass wir Autos, die 200 Kilometer in der Stunde schnell fahren können und im Schnitt deutlich mehr als eine Tonne wiegen, in der Stadt nutzen, wo wir sowieso nicht schneller als 50 Kilometer in der Stunde fahren dürfen. Autos sind für eine ganze Familie gedacht, doch wir sitzen meistens allein auf dem Fahrersitz. Sofern wir das Auto überhaupt nutzen – 90 Prozent der Zeit stehen die Blechkisten ja nur nutzlos rum und blockieren wertvollen städtischen Raum, den gerade wachsende Städte wie Berlin sehr gut für andere Nutzungsarten gebrauchen könnten. Hinzu kommt, dass von den Autos ein enormes Sicherheitsrisiko ausgeht, besonders für all jene Verkehrsteilnehmer, die nicht drinsitzen und sich nicht auf die schützende Metallhülle und die Airbags verlassen können.
Deshalb: Um vom einen Ende der Stadt ans andere zu kommen, werden wir vorrangig öffentliche Verkehrsmittel, also Busse, Straßen-, S- und U-Bahnen nutzen. Diese Fahrzeuge werden langfristig alle mit Strom aus erneuerbaren Energien betrieben und sie werden höchstwahrscheinlich ohne Fahrer auskommen. Auf kürzeren Distanzen, insbesondere auch auf den Wegen von der Wohnungstür zum nächsten Verkehrsknotenpunkt und zurück, werden wir verschiedene sogenannte Mikrovehikel nutzen. Diese können zwei-, drei- oder vierrädrig sein, durch Strom oder Muskelkraft betrieben werden und für ein oder zwei Personen ausgelegt sein.
Ähnliches gilt übrigens für den Transport von Waren. Auch hier lohnt es sich, beispielsweise kritisch zu hinterfragen, ob wir in der Stadt wirklich fünf verschiedene Lieferdienste brauchen, die alle das gesamte Stadtgebiet abfahren. Wäre es nicht viel effizienter, wenn täglich nur noch einer statt fünf Lieferwagen in meine Straße kommt? Und muss es überhaupt ein Lieferwagen sein? Wäre es nicht genauso gut möglich, Sammelstellen in den Kiezen einzurichten, von wo aus die Pakete zum Beispiel mit Lastenfahrrädern ausgeliefert oder von den Menschen abgeholt werden?
Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Automobilindustrie, die in Deutschland als einer der größten Arbeitgeber besonderen politischen Schutz genießt, im Hinblick auf diese grundlegende Umgestaltung des Mobilitätssystems?
Die deutsche Automobilindustrie bremst den Umbau des urbanen Mobilitätssystems seit Jahren aus. Und zwar nicht nur hier in Deutschland, sondern weltweit. In mancherlei Hinsicht kann man, meine ich, sogar von Sabotage sprechen. Beispielsweise gab es im Jahr 2016, während der niederländischen Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union (EU), einen mutigen Vorstoß der Politik. Die Grenzwerte für den CO2-Ausstoß von Pkw, die momentan bei 120 Gramm pro Kilometer liegen, sollten unter 75 Gramm pro Kilometer gedrückt werden. Diese Verordnung hätte weitreichende Konsequenzen gehabt, denn ab ca. 90 Gramm pro Kilometer rechnet sich der Automotor aus ökonomischer Perspektive nicht mehr. Die gesamte Branche hätte also im Prinzip innerhalb weniger Jahre auf Elektromobilität umsatteln müssen. Die Verordnung, so wurde mir von einem Mitglied der holländischen Regierung berichtet, war bereits beschlossene Sache. Dann gab es allerdings zu später Stunde einen Anruf von Herrn Wissmann, dem Präsidenten des Verbandes der (deutschen) Automobilindustrie, an Herrn Gabriel und einen weiteren Anruf von Herrn Gabriel an Frau Merkel. Und Frau Merkel hat die besagte Verordnung dann kurzerhand entgegen dem vorgesehenen Protokoll abmoderiert.
Warum sperren sich die Hersteller so hartnäckig? Wäre die Umstellung auf Elektromobilität, die doch langfristig sowieso unumgänglich ist, etwa kein gutes Geschäft?
Die Umstellung auf Elektromobilität ist langfristig tatsächlich unumgänglich und einige Autohersteller investieren schon seit Jahren in dieses neue Geschäftsfeld. Firmen wie Daimler (mit Car2Go) oder BMW (mit DriveNow) sind außerdem schon früh in den Sharingmarkt eingestiegen und viele weitere Hersteller haben mittlerweile nachgezogen. Die grundlegende Bereitschaft zu Neuerungen will ich der Branche also gar nicht absprechen.
Doch aus Sicht eines Unternehmens muss natürlich jede Neuerung profitabel sein. Nun ist die Umstellung auf Elektromobilität für die deutschen Hersteller nicht nur eine Chance, sondern auch eine Gefahr, denn sie haben diesen Trend im Vergleich zur internationalen Konkurrenz (Stichwort Tesla) komplett verschlafen. Außerdem wurden in den vergangenen Jahren riesige Summen in Kapitalgüter investiert, die man bei einer vollständigen Umstellung der Produktion auf Elektroautos nun alle ersetzen müsste. Aus unternehmerischer Sicht ist es nachvollziehbar, dass man diese Investitionen zunächst amortisieren möchte. Jeder investierte Euro soll sich bezahlt machen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die deutschen Autos des “alten” Typs weiterhin stark nachgefragt werden; und zwar weltweit, insbesondere jedoch in den aufstrebenden, bevölkerungsreichen Entwicklungsländern. Im Vergleich dazu ist die Nachfrage nach Elektroautos und Mikrovehikeln neuen Typs immer noch sehr, sehr gering.
Wird sich das eher kurz-, mittel- oder langfristig ändern?
Ich fürchte, diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Die Faktoren, die eine Rolle spielen, sind einfach zu zahlreich. Aufmerksame Beobachter finden viele entgegengesetzte Trendlinien und sich widersprechende Anzeichen. Ich habe zum Beispiel den Eindruck, dass in vielen südamerikanischen, asiatischen und afrikanischen Ländern noch die nächsten ein oder zwei Generationen genau die Autos wollen, von denen wir uns eigentlich verabschieden müssten, um die Folgen des Klimawandels zu begrenzen. Das liegt einfach daran, dass die „dicken Schlitten“ dort noch für geraume Zeit ein wichtiges Statussymbol und Ausdruck des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs darstellen werden.
Gleichzeitig wachsen die Großstädte in den Entwicklungsländern noch viel schneller als in Europa. Die große Urbanisierungswelle, über die heute alle Welt spricht, setzt gerade erst ein. Sollte es in diesen Ländern beziehungsweise Städten irgendwann auch nur annähernd so viele Autos pro Haushalt geben wie in Deutschland, dann sind Verkehrsinfarkt und unerträgliche Luftverschmutzung vorprogrammiert. Der resultierende Druck wiederum wäre enorm und würde ein grundlegendes Umdenken und entschiedenes Handeln der Politik wohl extrem beschleunigen.
Doch das ist keine Erfolgsgarantie für eine schnelle Umstellung. Hier in Berlin zum Beispiel wurde in den vergangenen Jahren ganz massiv – wir reden über Hunderte von Millionen Euro – in Ladestationen und Infrastruktur für Elektromobilität investiert. Und dennoch ist der Anteil der Elektroautos am gesamten Verkehrsaufkommen weiterhin verschwindend gering.
Allerdings zeigen uns die jüngsten Entwicklungen der erneuerbaren Energien, dass ein Systemumbau, auch wenn er zunächst nur schleppend vorankommt, irgendwann richtig Fahrt aufnimmt, sobald Marktmechanismen greifen und sich das Mindset der Leute wirklich verändert. Wenn ausreichend investiert wird und die Hersteller tatsächlich die Produktionskapazitäten ausbauen, dann sinken auch die Preise und der Umbau wird im besten Fall zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Doch ob es im Mobilitätssektor nun in drei, in zehn oder in 50 Jahren so weit ist – wer weiß das schon so genau?
Wenn wir über den Umgang der Gesellschaft mit dem Klimawandel sprechen, dann werden alle möglichen Maßnahmen zur Effizienzsteigerung besprochen, beispielsweise der Einsatz innovativer Technologien. Die größten Einsparungen jedoch würden wir durch Verzicht erzielen. Darüber wird jedoch, das ist zumindest mein Eindruck, eher selten ernsthaft nachgedacht. Wie stehen Sie dazu?
Zumindest im Hinblick auf die Mobilität der Menschen bin ich kein großer Fan des Verzichtarguments. Ich vertrete nicht die Auffassung, dass die Menschen den Grad ihrer Mobilität bewusst reduzieren und sich weniger bewegen sollten. Denn letztlich kommt es doch nur darauf an, wie sie sich bewegen, mit welchen Mitteln und mit welchen Konsequenzen. Dieser Ansatz lässt sich auf andere Sektoren übertragen. Wir sollten meiner Meinung nach nicht auf Erdbeerjoghurt verzichten. Stattdessen sollten wir verhindern, dass der Erdbeerjoghurt quer durch Europa geflogen wird, bevor er bei uns im Supermarkt landet.
Doch ich verstehe den Grundgedanken und die Intuition hinter dem Aufruf zum Verzicht. Und ich bin sehr wohl der Auffassung, dass Effizienzsteigerungen allein keine wirkliche Lösung der drängenden Probleme unserer Zeit sind. Um zum Beispiel die Folgen des Klimawandels einzugrenzen oder einen Verkehrskollaps in den Metropolen der Welt zu verhindern, müssen wir unseren Lebensstil grundlegend überdenken. Ich befürchte allerdings, dass sich die Menschen heute nichts mehr verbieten lassen. Stattdessen muss man sie überzeugen. Und Überzeugungsarbeit leistet man eher mit positiven als mit negativen Botschaften. Statt also zu fordern: „Wir müssen uns alle einschränken und Verzicht üben!“, erscheint es mir sinnvoller zu sagen: „Hey, wenn wir die Energiewende schaffen, dann haben wir Strom im Überfluss. Also lasst uns die Energiewende meistern!“.
Herr Lennert, vielen Dank für das interessante Gespräch!