Prof. Dr. Philipp Bouteiller ist Geschäftsführer der Tegel Projekt GmbH und die treibende Kraft hinter dem neuen Stadtquartier „Berlin TXL“. Auf dem 5 km2 großen Areal des einstigen Flughafens Tegel entsteht in den nächsten Jahren Großartiges: ein Experimentierfeld für die lebenswerte Stadt von morgen. Klimaschutz und die Rückbesinnung auf natürliche Ressourcen nehmen dabei einen ganz besonderen Stellenwert ein.
Philipp, lass uns über die Beziehung von Stadt und Natur sprechen. Wie ist es um sie bestellt? Haben sich beide irgendwann auseinandergelebt?
Spätestens seit der Industrialisierung ist das der Fall gewesen. Doch wir sehen, dass Herrschaftsformeln à la
„Macht euch die Erde untertan“ irgendwann nicht mehr funktionieren. Wir sind längst jenseits der Grenzen dessen, was die Erde bereit ist, zuzulassen. Und auch, was Menschen bereit sind, an Lebensqualität einzubüßen, wenn sich Städte zu weit von der Natur entfernen. Die Idee der funktionalen Stadt ist gescheitert – weil sie unnatürlich ist und nicht dem Wesen des Menschseins entspricht, schlicht: weil sie krank macht. Sicher brauchte es schmerzvolle Erkenntnisse, aber wir Menschen entdecken mehr und mehr unsere biologische Identität wieder. Ein Paradigmenwechsel hat längst stattgefunden, so dass wir weltweit beobachten können, dass Stadt und Natur wieder mehr zueinander zu finden.
Woher kommt die Natursehnsucht vieler Großstädter?
Auch wenn wir heute keine rauchenden Schlote mehr sehen, so atmen wir dennoch keine gesunde Luft in unseren Städten. Wenn wir uns die Stadt mal als ein geschlossenes Zimmer vorstellen, in dem wir mit laut ratternden Motoren Benzin und Öl verbrennen, Reifenabrieb und anderen Feinstaub verteilen, dann würden wir unsere Kinder dort garantiert nicht spielen lassen. Aber so ist es doch in unseren Städten, insbesondere bei Windstille oder Inversionswetterlagen. Viele Menschen wollen das nicht mehr, sondern sehnen sich nach gesunder Luft, mehr Ruhe, mehr Grün, mehr Bewegungsfreiheit – eben nach Natur.
Die Versöhnung von Stadt und Natur ist nicht nur ein städtebauliches Thema, sondern auch eine grundsätzliche Haltung. Warum ist Dir das so wichtig?
Es wurde mir quasi in die Wiege gelegt und begleitet mich mein ganzes Leben. Ich bin in der Natur aufgewachsen, als Kind durch Wälder gestreift. Ich habe Umweltschutz in meiner Familie immer als wichtiges Thema erfahren. Mein Vater und Großvater haben sich für Umweltthemen stark gemacht, als noch kaum jemand davon sprach. Mein Onkel zog als einer der ersten Grünen-Politiker in den Baden-Württembergischen Landtag ein. Und mein anderer Onkel kämpfte als CDU-Mitglied gegen das geplante atomare Endlager in Gorleben. Als Teenager trieb mich das Waldsterben um, und als Zivildienstleistender habe ich ein Eisvogelschutzprojekt geleitet. All das hat mich sehr geprägt. Und auch, dass ich seit 1989 – quasi als Gegenpol – erst in Berlin und dann lange Zeit im Zentrum von London gelebt habe und weiß, was man in Metropolen an guter Luft, sauberem Wasser und schöner Umgebung vermisst. Insofern bin ich glücklich, jetzt nicht nur im immer grüneren Berlin zu leben, sondern mich auch beruflich mit neuen Konzepten für mehr Natur und in unseren Städten beschäftigen zu dürfen. Ich liebe das urbane Leben und möchte dazu beitragen den immanenten Widerspruch zwischen Stadt und Natur zunehmend aufzulösen.
Welchen Beitrag können unsere Städte im Kampf gegen den Klimawandel leisten?
Städte spielen für den Klimaschutz eine enorm wichtige Rolle, denn sie verbrauchen rund 75 Prozent aller globalen Ressourcen. Da sie aber auch für 80 Prozent der globalen Wertschöpfung verantwortlich sind, bieten sie den weitaus größten Hebel zur Rettung der Welt. Sie könnten viel mehr leisten als sie es derzeit tun: auf der einen Seite schädliche Emissionen drastisch reduzieren, auf die Nutzung sauberer Energien setzen und insgesamt energieeffizienter und ressourcenschonender sein. Auf der anderen Seite müssen sie sich wappnen gegen immer häufiger auftretende Extremwetterphänomene wie Hitzeperioden, Starkregen oder Dürren. Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass grüne Städte die Umwelt effektiv entlasten können und nicht nur klimaneutral, sondern sogar klimapositiv wirken können. Berlin TXL soll ein Testfeld werden, um zu erproben, wie das gelingen kann.
Wird denn Berlin TXL ein Ort der Versöhnung von Stadt und Natur sein?
Absolut.
Was können wir erwarten?
Das Schumacher Quartier wird ein CO2-neutrales, vielleicht sogar CO2-positives, Stadtviertel sein. Wir werden begrünte Dächer, Fassaden und viel grüne Freiräume haben, dazu Wasserflächen und große biologische Vielfalt. Die Häuser werden überwiegend aus Holz gebaut und die Straßen frei von Abgasen sein, da wir Autos weitgehend aus dem Zentrum verbannen. Wir werden ein intelligentes Regenwassermanagement haben und saubere Energie nutzen. Wir ziehen Dinge wie das Schwammstadt-Prinzip* oder Animal Aided Design** in unsere Planungen ein und verfügen über ein weltweit einzigartiges, nachhaltiges Energiekonzept. Unsere „Smart City“ Berlin TXL wird in Berlin und weit darüber hinaus ganz neue Akzente setzen und zeigen, dass Natur in der Stadt nicht nur die Lebensqualität verbessert, sondern uns auch widerstandsfähiger gegen die Auswirkungen des Klimawandels macht. Die Zukunft beginnt in Berlin TXL ein ganzes Stück früher als anderswo. Frei nach dem Science-Fiction-Autor William Gibson: „Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich verteilt.“
Wie wappnet sich das Quartier gegen Starkregen, Trockenheit und Hitze?
Es regnet inzwischen nicht unbedingt weniger, dafür aber seltener und heftiger. Das führt dazu, dass der Regen nicht mehr versickern kann, sondern von den trockenen Böden schnell in die Kanalisation abfließt und damit dem natürlichen Kreislauf entzogen wird. Statt in die Kanalisation abzufließen, versickert bei uns das Regenwasser über ein ausgeklügeltes Kaskadensystem nach und nach über blau-grüne Dächer, bepflanzte Zonen, Überflutungsflächen und unterirdische Pufferspeicher. Das gesamte Regenwasser wird im Quartier genutzt oder gespeichert, nichts geht verloren. Wenn es an heißen Tagen verdunstet, kühlt es die Umgebung, wenn es versickert, reichert es das Grundwasser an. So schaffen wir lokale Klimaregulierung. Genau wie mit den vielen Bäumen, die wir pflanzen werden und die wie natürliche Klimaanlagen wirken. Etwas Klügeres hätte sich kein Ingenieur ausdenken können: Im heißen Sommer spenden ihre Blätter Schatten und Verdunstungskühle, vom Herbst bis ins Frühjahr lassen sie die wärmenden Strahlen der Sonne durch. So einfach und doch so genial! Gesunde, großblättrige Laubbäume sind der wichtigste Beitrag der Stadt zur lokalen Klimaregulierung.
Im Schumacher Quartier sollen über 5.000 Wohnungen entstehen, und Holzbau wird dabei eine entscheidende Rolle spielen. Warum?
Zum einen ist Holz einfach ein wunderbares Material, mit einer ganz besonderen visuellen und haptischen Ästhetik. Es schafft gesundes Raumklima und ist ein guter Temperaturregulator, der im Sommer vor Überhitzung schützt und im Winter die warme Heizungsluft im Inneren hält. Holz bindet dauerhaft Kohlendioxid und auch die Erstellung unserer Holzhäuser wird einen vergleichsweise kleinen CO2-Fußabdruck hinterlassen: Weil wir überwiegend regionales Holz aus einem Umkreis von rund 200 km um Berlin verwenden und somit sehr kurze Lieferwege haben. Und weil der gesamte Herstellungs-, Verarbeitungs- und Bauprozess emissionsschonend konzipiert wird. Unterstützt wird das Ganze von der sogenannten „Bauhütte 4.0“. Nach dem Vorbild der mittelalterlichen Dombauhütte errichten wir bei uns ein Zentrum zum Thema des innovativen urbanen Holzbaus und wollen Technologien zur vernetzten intelligenten Produktion testen. Von der Forschung und Entwicklung über die Produktion bis hin zum fertigen Holzbau-Quartier werden wir in Berlin TXL alles an einem Ort abbilden und dabei helfen, Berlins Vorreiterrolle in Sachen nachhaltiger Stadtentwicklung auszubauen.
Der Ruf nach erschwinglichem Wohnraum ist überall zu hören. Wie kann es gelingen, so ein ambitioniertes, grünes und hochmodernes Quartier zu errichten und trotzdem die Mieten bezahlbar zu halten?
Die Produktionskosten werden mittelfristig unter denen konventioneller Gebäude liegen. Und wenn wir zusätzliche Maßnahmen wie Gründächer oder aktive Fassaden integrieren, werden wir vergleichbare Preise bei einer viel höheren Qualität bieten können. So oder so spielt der soziale Aspekt eine große Rolle. Die Hälfte aller Grundstücke wird von städtischen Wohnungsbaugesellschaften bebaut, deren Mieten rund 30 Prozent unter den marktüblichen liegen und die 50 Prozent geförderte Wohnungen errichten werden. Die übrigen Flächen bebauen andere gemeinwohlorientierte Akteure. Der Anteil an gefördertem Wohnraum wird im gesamten Quartier bei rund 40 Prozent liegen. Das ist ausgewogen und verantwortungsvoll. Somit lösen wir unser Versprechen ein, ein ebenso ökologisches wie soziales Quartier zu sein.
Viele Großstadtmenschen gönnen sich „Landleben light“, etwa in Kleingarten-Anlagen. Welche Rolle kann privates und gemeinschaftliches Gärtnern im Berlin TXL spielen?
Wir sehen ein großflächiges Gartenband für Urban Gardening und Urban Farming vor. Es gibt stattliche Innenhöfe und an vielen Straßen des Wohnquartiers auch sogenannte Aneignungszonen, auf denen jeder nach Lust und Laune selbst Gemüse anpflanzen oder Blumenbeete gestalten kann. Wer gärtnern möchte, kommt in jedem Fall auf seine Kosten.
Nicht nur Menschen sollen Berlin TXL beleben, sondern auch wissenschaftliche Einrichtungen, Startups und etablierte Firmen. Welche Bedeutung haben Natur und Umweltschutz für die Unternehmensansiedlung?
Das spielt gleich in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle. Zum einen liegt unser inhaltlicher Fokus auf urbanen Zukunftstechnologien. Berlin TXL wird ein Labor, Testfeld und Produktionsstandort für saubere Energiesysteme und umweltschonende Mobilität, für neue Werkstoffe, Lösungen der Kreislaufwirtschaft und digitale Infrastruktur. Allem gemein ist der Nachhaltigkeitsaspekt. Zum anderen werden Unternehmen immer sensibler, was Umwelthemen anbetrifft. Sie werden mehr gefordert und wissen selbst, dass nachhaltiges Denken und Handeln ihre Zukunftsfähigkeit befördern. Wir werden all diesen Unternehmen eine einzigartige Vorteilsumgebung bieten.
Könnte sich Berlin TXL zu einer Blaupause für nachhaltige Nachnutzungsprojekte in ganz Deutschland entwickeln?
Nicht nur für Nachnutzungsprojekte und nicht nur für Deutschland. Es hat das Zeug, ein internationales Vorbild für natur-, menschen- und technologiebejahende Quartiersentwicklung zu werden.
Insbesondere in Asien wachsen gigantische Smart Cities heran, gegen die Berlin TXL winzig wirkt. Was sind die Besonderheiten, die dennoch international aufhorchen lassen?
Unser Areal ist zwar verhältnismäßig klein, trotzdem schauen alle auf uns. Sicher wegen der innerstädtischen Lage, mitten in der Hauptstadt der größten Industrienation Europas. Deutschland hat im Ausland einen hervorragenden Ruf – gerade bei Themen wie Energiewende oder Nachhaltigkeit und vor dem Hintergrund starker Regelwerke. Was hier auf die Beine gestellt wird, hat Signalwirkung nach außen. Und dass wir bei Tegel Projekt „den Luxus“ hatten, seit 2012 intensiv über Zukunftsfragen nachzudenken, Planungen zu hinterfragen, neu abzuwägen, uns mit den klügsten Köpfen auszutauschen, von anderen zu lernen, um schließlich unsere eigene Vision der Stadt von morgen zu planen – auch dies ist eine Besonderheit, die uns positive internationale Beachtung beschert.
Wer war eigentlich Mastermind für Berlin TXL, wer hat dem Projekt diesen Stempel aufgedrückt?
Der Erfolg hat viele Mütter und Väter, in diesem Fall begonnen 2008 mit Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer, die frühzeitig einen großangelegten Partizipationsprozess zur Nachnutzung des Flughafengeländes gestartet hat. Die wesentliche Entscheidung fiel dann seitens des Senates 2011, als beschlossen wurde, das Gelände des Flughafens in seiner Nachnutzung Zukunftstechnologien zu widmen, mit einem besonderen Schwerpunkt auf Stadttechnologien.
Das war und ist eine glückliche Kombination von Menschen, die die gleichen Ziele verfolgen, die sich mit Begeisterung und großer Integrität für höhere Ziele einsetzen, in denen allen ein bisschen „Weltverbesserer“ steckt. Sei es in unserem Team bei der Tegel Projekt GmbH oder bei den vielen Menschen, die sich in den vergangenen Jahren partizipativ an den Planungen beteiligt haben, oder in der Politik, die uns ja nicht nur gewähren ließ, sondern das Projekt selbst als echte Chance begriff, uns forderte und ermutigte, konsequent neu zu denken. Ohne diese breite politische Rückendeckung hätten wir ein so mutiges Vorhaben gar nicht planen können.
Mit dem Abschied vom Flughafen Tegel verbinden viele großen Verlust. Was gewinnen Sie neu?
Der Airport war zu seiner Eröffnung ein Zukunftsversprechen. Er zeigte die Kraft nachhaltiger Planungen, und die Intelligenz seiner Infrastruktur war einzigartig. Ja, ich kann verstehen, dass ein Abschied davon schmerzt. Aber die Geschichte ist nicht zu Ende. Wir schlagen vielmehr ein neues Kapitel auf und geben abermals ein Versprechen auf die Zukunft ab, voller Zuversicht auf eine bessere Stadt. Diesem Abschied wohnt der Beginn einer aufregenden Verwandlung zu etwas Gutem inne. Das ist die alternative Antwort zum „Weiter so“.
Berlin sieht sich als eine der grünsten Metropolen. Wird die Stadt 2050 ganz anders aussehen?
Wenn ich in 30 Jahren aus meinem Fenster schaue, dann erst auf den zweiten Blick. Die meisten Häuser stehen dann ja immer noch da wo sie heute sind. Stadt wandelt sich in Europa mit einer Rate von etwa ein bis zwei Prozent im Jahr. Wenn ich aber etwas genauer hinschaue, dann sehe ich, dass die Stadt anders organisiert ist: Verbrennungsmotoren wird es nicht mehr geben, dafür autonome elektrische Mobilität, die eine andere Verteilung des Straßenraumes erfordert. Und wir werden vielerorts CO2-bindende Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen sehen, von denen wir manche heute noch gar nicht im Blick haben. Vor allem der öffentliche Raum wird sich aber verändert haben, viel mehr natur- und menschgerecht sein.
Wir befinden uns in einer Zeit der ökologischen und digitalen Transformation. Veränderungen und Innovationen kommen immer schneller. Wer das nicht mag, sollte übrigens das Heute genießen, denn so langsam wie jetzt wird die Welt nie wieder sein.
Danke für das Gespräch!
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Das Schwammstadtprinzip ist eine Möglichkeit, den Auswirkungen von Starkregenereignissen entgegenzuwirken, indem der komplette Niederschlag nicht oberflächlich abfließt, sondern aufgefangen, gespeichert und wiederverwertet wird.
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Animal-Aided Design ist ein Planungsansatz, der die Bedürfnisse stadtbewohnender Tiere in die Stadt-, Landschafts- und Freiraumplanung einbezieht. Das Konzept zielt darauf ab, wildlebende Vögel, Reptilien oder Säugetiere dauerhaft in städtischen Freiräumen anzusiedeln und für Menschen die Lebensqualität durch neue Formen der Naturerfahrung in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld zu verbessern.