Kristien Ring ist gebürtige US-Amerikanerin und lebt seit Anfang der 90er-Jahre in Berlin. Nachdem sie über sechs Jahre das Deutsche Architekturzentrum (DAZ) geleitet hat, arbeitet Kristien Ring heute als freie Architektin und Kuratorin. Ich habe mich mit ihr über die Berliner Baugruppen unterhalten. Das sind formale oder formlose Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und Bürgern, die gemeinsam ein Grundstück in der Stadt erwerben und darauf ein Wohnhaus bauen oder ein leerstehendes Gebäude instandsetzen und beziehen. Kristien Ring hat in ihrem Buch „Selfmade City Berlin“ (2013) mehr als 100 solcher Projekte vorgestellt und analysiert.
Viktor Hildebrandt: Frau Ring, Sie leben seit Anfang der 90er-Jahre in Berlin. Denken Sie gern zurück an die Zeit nach der Wende?
Kristien Ring: Na klar. Berlin war damals eine vollkommen andere Stadt. Ich fand es toll, in dieser Zeit und in diesem Alter – direkt nach meinem Bachelor – in Berlin zu leben. Es war wahnsinnig spannend, denn man konnte vieles gestalten; die Stadt war komplett im Umbruch. Es gab viele gesellschaftliche Veränderungen und fast jeden Tag etwas Neues.
Sie kommen ja richtig ins Schwärmen.
Das würde ich wiederum nicht sagen. Ich glaube nicht, dass eine Stadt immer so sein muss. Ich denke gern zurück, doch ich vermisse diese Zeiten nicht unbedingt – aber ich bin eben auch 20, 25 Jahre älter. Abgesehen davon: Die Herausforderungen, vor die wir heute gestellt sind, sind ja mindestens genauso spannend wie die von damals.
Es gibt viele verschiedene Ansätze mit den aktuellen Herausforderungen der Stadtentwicklung umzugehen. Sie, liebe Frau Ring, setzen sich zum Beispiel ganz vehement für die vermehrte Beteiligung von Baugruppen am städtischen Wohnungsbau ein. Ich nehme an Sie sind in den 90er-Jahren auf die Baugruppen aufmerksam geworden?
Nein, das kam später. In den 90ern ging es in erster Linie darum, die Stadt – also natürlich vor allem den Ostteil – zu reparieren. Hier war ja (bis auf ganz wenige Ausnahmen) alles komplett unrenoviert. Wir hatten keine Bäder, keine Telefone, keine Heizungen … es war eine Art „Camping“ in der Stadt. Anderswo fingen die Leute an, sich mit dem Internet zu beschäftigen, da standen wir noch in der Schlange vor der Telefonzelle. Sie kennen bestimmt gar keine Telefonzellen mehr, oder?
Doch, doch, ich habe die als Kind noch benutzt, um mit meinen Großeltern in Leipzig zu telefonieren. Also wie wurden Sie denn dann auf bürgerschaftlich organisierte Baugruppen aufmerksam?
Das passierte so ungefähr im Jahr 2002. Damals war Berlin total pleite – wie immer –beziehungsweise wie immer noch. Es wurde entschieden, den sozialen Wohnungsbau, wie wir ihn bisher kannten, und außerdem alle Subventionen für die Sanierung des Berliner Ostens zu streichen. Die Banken haben zu dieser Zeit auch kaum noch Kredite vergeben. Die Architekten hier hatten nichts mehr zu tun, denn es gab keine Ausschreibungen. Kurzum: Es gab quasi einen umfassenden Baustopp in ganz Berlin.
Gleichzeitig suchten aber überall Leute nach neuem Wohnraum. Viele Menschen hatten gerade Kinder bekommen und suchten nach einer passende(re)n Wohngelegenheit. Aber sie wollten eben in der Stadt, in der Innenstadt bleiben und nicht – wie das sonst oft üblich ist – raus aufs Land ziehen.
Aus dieser Situation heraus entstand bei vielen Menschen die Idee, verfügbare Grundstücke zu kaufen. Auf dem Markt waren diese Grundstücke wahnsinnig billig, denn niemand wollte sie haben. Aus heutiger Sicht klingt das natürlich unglaublich, doch damals zeigten die großen Investoren keinerlei Interesse, denn es gab keine Aussicht auf Profit. Mittlerweile haben sich die Preise ungefähr verzehnfacht. Was man hier [wir sind im Prenzlauer Berg] 2002 für ein Stadthaus bezahlte, das muss man heute für eine 80-Quadratmeter-Wohnung hinblättern – mindestens.
Jedenfalls kamen viele Architekten auf die Idee, in ganz unterschiedlichen Konstellationen, gemeinsam mit Freunden, Grundstücke zu kaufen und darauf zu bauen.
Und Sie auch?
Nein, ich habe damals das Deutsches Architektur Zentrum [DAZ] geleitet und beschlossen, über diese Baugruppen eine Ausstellung zu machen. Es war ja schließlich das Einzige, was gerade passierte (lacht). Und während die anderen Architekten mit ihrer jeweiligen Gruppe und ihrem Projekt beschäftigt waren, habe ich darin eben eine Art Bewegung gesehen. Die Ausstellung hat diese Bewegung dann wiederum verstärkt. Plötzlich gab es neue Unterstützer, aber auch Kritiker. Daraufhin habe ich das Projekt Selfmade City gestartet, um herauszufinden und darzustellen, was selbst initiierter Wohnungsbau zu einer Stadt wie Berlin beitragen kann.
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Oh, da gibt es so einiges zu erzählen! Besonders bemerkenswert sind einerseits die architektonischen Qualitäten der Gebäude und andererseits ihre Wirkung auf das Zusammenleben in der jeweiligen Nachbarschaft.
Könnten Sie das bitte ein wenig näher erläutern?
Menschen, die selber bauen, wollen meistens langfristig in ihrem Eigentum wohnen und sind deshalb bereit, in Qualität zu investieren. Sie wissen, dass sie durch energetisch hochwertige Baustoffe und -technologien langfristig viel Geld sparen. Deshalb erreichen die meisten Projekte dieser Art die höchste Energieeffizienzklasse und einige sind sogar Passivhäuser. Mittlerweile entwickeln einige Baugruppen sogar Konzepte für Häuser, die mehr Energie produzieren, als die Bewohner verbrauchen. Insofern bauen diese Gruppen tendenziell sehr fortschrittlich und nachhaltig.
Außerdem investieren die Leute natürlich auch in das Aussehen der Häuser – es geht schließlich um ihre Adresse. Hinzu kommt, dass die künftigen Bewohner das Haus ganz auf ihre Bedürfnisse abstimmen können, denn sie sind es ja, die alle Entscheidungen treffen. So entstehen maßgeschneiderte Lösungen. Besonders auffällig ist, dass die Mitglieder der Baugruppen viele Dinge miteinander teilen. Damit sind wir bei der Wirkung auf das Zusammenleben …
Entschuldigen Sie, dass ich unterbreche: können Sie hier vielleicht einige Beispiele anführen? Was teilen die Menschen denn so? Ich denke als Erstes an Waschmaschinen …
Naja, Waschmaschinen eher weniger. Gerade bei Familien mit Kindern sind die doch ständig in Betrieb und niemand hat Lust dazu, andauernd mit der Wäsche hoch- und runterzurennen. Aber Werkstätten, Sporträume, Dachterrassen oder Gästezimmer. In einigen Projekten haben sich die Bewohner gemeinsam eine Sauna oder sogar ein kleines Schwimmbad gebaut. Wo es einen Gemeinschaftsgarten gibt, ist auch eine gemeinsam genutzte Toilette sehr sinnvoll. Vieles, was man sich alleine nie leisten könnte, ist möglich, wenn man sich mit anderen Menschen zusammentut.
Oft werden multifunktionale Räume geschaffen. Bei schlechtem Wetter haben die Kinder tagsüber einen Raum zum Spielen und abends schmeißen die Erwachsenen dort eine Party; mal trifft man sich zum Tee trinken, mal feiert man Weihnachten oder einen Geburtstag, mal schaut man gemeinsam Filme. Bei Bedarf kann man solche Räume dann auch in ein Büro oder in eine neue Wohnung verwandeln.
Es sind oft auch wirklich ganz kleine Dinge. In einem Haus voller Kinder braucht man zum Beispiel viele Fahrräder und die Fahrräder wachsen nicht mit den Kindern. Anstatt sich jedes Jahr neue Fahrräder für den Eigenbedarf zu kaufen, kann man sie doch einfach gemeinsam nutzen. Es gibt ganz viel, was man teilen kann; und durch das Teilen spart man nicht nur Geld, sondern auch Platz.
Danke. Sie wollten eigentlich gerade von der Wirkung der Baugruppen auf unser Zusammenleben in der Stadt sprechen.
Genau. Das Teilen ist also ein ganz wichtiger Aspekt, der durchaus auch auf das jeweilige Umfeld abfärbt. Die Menschen in der Nachbarschaft kriegen das ja mit. Hinzu kommt – und das ist mindestens genauso wichtig –, dass selbst initiierter Wohnungsbau für Durchmischung und Vielfalt sorgt. Die Menschen können ihr Projekt auf ihre jeweils spezifischen Bedürfnisse abstimmen und sich gemeinsam bestimmte bauliche Qualitäten leisten, die für Einzelne schlichtweg unbezahlbar wären. Dadurch schaffen sie Räume, die es sonst auf dem Markt so niemals geben würde. Ich spreche von Räumen, die für Menschen mit speziellen Bedürfnissen geeignet sind, also zum Beispiel für Familien mit kleinen Kindern, für Senioren oder für Menschen mit Behinderungen. Baugruppen ermöglichen es vielen Menschen, in der Stadt zu bleiben, die sonst wegziehen würden bzw. müssten. Dies sorgt wie gesagt für Durchmischung und Vielfalt. Beides ist ganz essenziell für eine lebhafte und lebenswerte Stadt.
Außerdem ist die Tätigkeit der Baugruppen nicht auf Profitmaximierung ausgerichtet. Insofern durchbrechen Selfmade-Projekte die Steigerungsspirale der Mieten in der Innenstadt und sorgen für langfristige Bezahlbarkeit. Die Baugruppen haben zudem viele Baulücken geschlossen (das passiert heute nicht mehr so oft, einfach weil es kaum noch Lücken gibt) und brach liegende Flächen (wieder-)belebt. Die Mitglieder dieser Vereinigungen sind häufig offen für Experimente. Sie mischen nicht nur die Nutzer, sondern auch die Nutzungsarten des Raumes. Und natürlich übernehmen die selbst bauenden Bürgerinnen und Bürger Verantwortung für einen Teil der Stadt. All diese Eigenschaften sorgen für eine städtische Verdichtung mit sozialem Mehrwert.
Das klingt nach einer Erfolgsgeschichte. Auch Michael Müller, der Regierende Bürgermeister von Berlin, scheint von dem Potenzial der Baugruppen überzeugt zu sein. Immerhin hat er – damals noch in der Rolle des Senators für Stadtentwicklung – das Vorwort zu Ihrem Buch Selfmade City beigesteuert. Dort lobt er die Tätigkeit der Baugruppen ausdrücklich. Passt seine Politik von heute zum Vorwort von damals?
Nicht wirklich. Aus meiner Sicht ist das aber nachvollziehbar, denn in Berlin setzen sowohl die Politik als auch die Gesellschaft so stark auf den Bau von Mietwohnungen, dass es politisch gesehen kaum möglich ist, Eigentum zu fördern. Ich halte das für überaus problematisch, gehöre mit dieser Meinung aber zu einer eher kleinen Minderheit.
Warum halten Sie Mietwohnungsbau für problematisch?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe natürlich nichts gegen Mietwohnungen an sich. Ich glaube aber, dass eine bessere Balance Berlin guttäte. Im Moment sollen neue Mietwohnungen immer so billig wie möglich sein. Im Prinzip fordern alle Beteiligten eine Kostenmiete, die angesichts der erforderlichen Baustandards – insbesondere wenn wir nachhaltig bauen wollen – kaum zu erreichen ist. Demgegenüber steht das Wohneigentum. Hier gilt das genaue Gegenteil: Neue Eigentumswohnungen sind meistens im Luxussegment angesiedelt und für die allermeisten Berlinerinnen und Berliner unerschwinglich. Es gibt immer weniger in der Mitte.
Die Projekte der Baugruppen schaffen selbstgenutztes – das ist ganz wichtig! – Wohneigentum mit den verschiedenen Qualitäten, die wir gerade besprochen haben. Sie wirken stabilisierend auf den Wohnungsmarkt, strahlen positiv auf ihr Umfeld aus und erhöhen die Qualität der Bausubstanz. Sie schaffen eine Balance im Wohnungsmarkt, von der Berlin langfristig profitieren würde. Sie sorgen dafür, dass die Zukunft dieser Stadt nicht nur den großen in- und ausländischen Investoren gehört, sondern auch den Menschen, die hier leben.
Nehmen wir einmal an, ich tue mich mit ein paar Freunden zusammen und möchte eine Baugruppe bilden. Wie funktioniert das denn eigentlich?
Ich würde sagen Sie knüpfen an bestehende Netzwerke an und finden einen Architekten, der mit diesem Prozess Erfahrung hat – davon gibt es in Berlin ja ganz viele. Anknüpfungspunkte sind zum Beispiel die monatlichen Freitagscafés von Stattbau Berlin oder das Netzwerk der Berliner Baugruppen Architekten wo auch Interessentenlisten geführt werden.
Entweder man findet auf diesem Weg eine bestehende Gruppe und steigt dort ein oder man gründet eben selbst eine Baugruppe. Dann muss man aber auch selbst ein passendes Grundstück finden. Und hier liegt der Hund begraben. Das ökonomische Bild der Stadt hat sich extrem verändert. Wenn es heute irgendein Grundstück oder Gebäude zu kaufen gibt, dann ist das nicht lange auf dem Markt und die Preise haben sich wie gesagt im Vergleich zu 2002 ungefähr verzehnfacht.
Dieser Preisanstieg macht das selbst initiierte Bauen ja zu einem regelrechten Elitenprojekt. Und damit wird es für die Politik – um auf Ihre Bemerkung von vorhin zurückzukommen – wiederum schwieriger, die Förderung der Baugruppen vor der Bevölkerung zu rechtfertigen.
Selbstverständlich. Aber das eigentliche Problem ist, dass Baugruppen derzeit im Prinzip kaum eine Chance haben, überhaupt an Grundstücke zu kommen, einfach weil die Investoren viel schneller agieren können und über riesige Mengen an Kapital verfügen. Hinzu kommt, dass die Grundstücke heute im Schnitt deutlich größer sind als noch vor einigen Jahren, denn es handelt sich meist um Industriebrachen.
Kleine innerstädtische Grundstücke gibt es kaum noch. Dadurch werden die Baugruppen natürlich größer, was es wiederum deutlich schwieriger macht, überhaupt einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Vorhin habe ich gesagt, die Geschichte der Baugruppen klinge nach einer Erfolgsgeschichte. Nun hört es sich für mich aber so an, als wäre es eine ziemlich kurze und letztlich eine tragische Geschichte.
Nicht unbedingt. Dem Land Berlin gehören immer noch zahlreiche Grundstücke. Und diese müssen ja nicht als einzelne große Flächen verkauft werden. Sie können auch zunächst in kleinere Einheiten aufgeteilt und erst dann zum Verkauf angeboten werden.
Außerdem ist ja nirgends in Stein gemeißelt, dass immer der schnellste und/oder meistbietende Investor auch den Zuschlag erhalten muss. Man könnte ja auch das bauliche Konzept und den Mehrwert für die Stadt bewerten und bei der Verkaufsentscheidung berücksichtigen. Ich bin überzeugt, dass die Baugruppen dann deutlich bessere Chancen hätten als heute, denn sie haben meistens ein bisschen mehr zu bieten als gewinnmaximierende Investoren.
Beim Holzmarkt hat das ja genauso funktioniert, oder?
Stimmt. Man muss aber dazu sagen, dass in diesem Fall nicht nur das Konzept, sondern auch und vielleicht vor allem der öffentliche Druck auf die Regierung ausschlaggebend war. Die Initiatoren vom Holzmarkt haben eine große Medienkampagne organisiert und so ganz viel Unterstützung aus der Bevölkerung erhalten. Aber das soll natürlich das eigentliche Konzept des Holzmarkts nicht schmälern.
Glauben Sie, dass der Holzmarkt nun zu einem Präzedenzfall für die konzeptbasierte Vergabe von Bauflächen in Berlin wird?
Ich wünsche es mir natürlich. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, davon bin ich überzeugt, möchte gern mehr Flächen auf Basis des räumlichen Konzepts vergeben. Aber die Finanzabteilung im Senat ist sehr skeptisch. Dort wird, sagen wir mal, nur darauf geschaut, welche Zahl am Ende unter dem Strich steht und wie schnell die Vergabe abgeschlossen ist. Nun denken die Stadtentwickler natürlich viel darüber nach, ob und wie sich sozialer Mehrwert beziffern lässt, um bessere Argumente gegenüber der Finanzverwaltung zu haben. Was für einen Wert kann man solchen positiven sozialen Einrichtungen wie zum Beispiel öffentlich zugänglichen Gärten oder Räumen im Erdgeschoss beimessen?
Ich persönlich bin in dieser Hinsicht eher skeptisch. Glauben Sie, dass es möglich ist sozialen Mehrwert, der ja nicht ohne Weiteres greifbar ist, in Euro- und Cent-Beträgen zu messen?
Ich bin da etwas optimistischer. Und es erwartet ja niemand Berechnungen bis auf die zweite Nachkommastelle. Zumindest gibt es durchaus eine Reihe von Faktoren mit einer positiven Wirkung und es wäre lohnenswert, deren ökonomisches Potenzial genauer zu erforschen.
Ich danke Ihnen für dieses interessante Gespräch!
Dieses Interview ist der erste Teil einer Reihe von Gesprächen über die Zusammenhänge zwischen Stadt, Technologie und Teilhabe.