Prof. Dr. Andreas Knie ist Geschäftsführer des Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) auf dem EUREF Campus in Berlin. Der Mobilitätsforscher ist zudem Professor für Techniksoziologie an der TU Berlin – er hat also eine genaue Vorstellung davon, wie der Verkehr in Zukunft aussieht und geregelt werden kann.
Viktor Hildebrandt: Herr Knie, Sie erforschen, wie Menschen und Güter von A nach B kommen. Was finden Sie daran so spannend?
Andreas Knie: Ich bin von Hause aus Sozialwissenschaftler. Wenn ich mir die Verkehrs- und Mobilitätslösungen einer Gesellschaft anschaue, dann sehe ich, wie die Menschen dort miteinander umgehen. Verkehr ist ein wichtiger Indikator dafür, wie wir leben, und Ausdruck davon, in welchem Zustand sich unsere Gesellschaft befindet. Anders ausgedrückt: Sagt mir, wie ihr euch im Verkehr verhaltet und ich sage euch, wer ihr seid.
Welche Rückschlüsse ziehen Sie mit Blick auf die Berliner Gesellschaft?
Ich stelle fest, dass sie sich in mindestens einer Hinsicht unglaublich dumm anstellt. Heute verschwenden wir sehr viel städtischen Raum für völlig überflüssige Parkplätze. Derzeit gibt es in Berlin ungefähr 1,2 Millionen Autos. Wir könnten aber mit 350.000 Autos das gleiche Verkehrsaufkommen bewältigen und brauchen deshalb eigentlich auch nur ein Drittel der vorhandenen Stellplätze.
Warum tut sich nichts?
Vor allem, weil die Berliner Politik und Verwaltung immer noch einem Gesellschaftsmodell der 50er- und 60er-Jahre hinterherlaufen. Die geltenden Gesetze, die den Verkehr in dieser Stadt regeln, beziehen sich auf ein völlig überholtes Bild unserer Gesellschaft, in dessen Mittelpunkt das eigene Auto und der eigene Parkplatz stehen. Heute braucht aber in Berlin niemand mehr ein eigenes Auto. Die Mehrheit der Leute hat das schon begriffen, aber der Gesetzgeber hinkt leider fürchterlich hinterher.
Welche Gesetze müssten wir denn ändern oder abschaffen, um als “Verkehrsgesellschaft” im 21ten Jahrhundert anzukommen?
Ich nenne Ihnen drei besonders wichtige Punkte. Erstens: Wir sollten das Personenbeförderungsgesetz komplett umkrempeln. Heute muss, wer andere Menschen gewerblich von A nach B befördern möchte, zunächst das gesamte Straßennetz Berlins, eine riesige Zahl an Routen und außerdem unzählige öffentliche Plätze, Hotels, Kultureinrichtungen, Krankenhäuser etc. auswendig lernen. Dann muss man für mehrere Hundert Euro eine Prüfung ablegen, um eine spezielle Lizenz zu erwerben. Am Ende hat dann trotzdem jeder eine Navigationsgerät im Auto. Ich halte es hier für sinnvoll, die Hürden deutlich herabzusetzen. Natürlich brauchen die Fahrerinnen und Fahrer einen Führerschein und ihre Autos müssen regulär zugelassen sein. Doch das ganze Prozedere muss an die heutige technische Realität angepasst und insgesamt deutlich vereinfacht werden.
Zweitens: Wir brauchen ganz offensichtlich eine drastische Absenkung der Grenzwerte, um endlich die Luftverschmutzung in den Griff zu kriegen. Wer mehr als 50 Gramm CO2 pro Kilometer emittiert, darf nicht mehr im Innenstadtbereich fahren. Fertig.
Drittens: Parkraum darf nicht weiter subventioniert werden. Die Leute müssen endlich die tatsächlichen Kosten für ihren Stellplatz bezahlen und nicht mehr nur einen winzigen Bruchteil davon. Jeder Parkplatz in dieser Stadt kostet das Land Berlin mehrere Tausend Euro im Jahr. Ein Anwohner zahlt aber nur 10 Euro Verwaltungsgebühr pro Jahr. Das ist doch irrsinnig. Wäre das Parken teurer, dann würden sich die Leute ganz genau überlegen, ob sie wirklich noch ein eigenes Auto brauchen. Man kann noch deutlich mehr tun. Doch schon die drei gerade beschriebenen Maßnahmen würden die Verkehrssituation in Berlin völlig verändern.
Glauben Sie ernsthaft, die Politik könnte das gegenüber der Bevölkerung durchsetzen?
Das ist es ja gerade! Wir können nachweisen, oder sagen wir lieber: Wir können plausibel behaupten, dass die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner für derartige Schritte durchaus bereit ist. Die Menschen haben eingesehen, dass es völlig bekloppt ist, wenn jeder ein eigenes Auto besitzt, das dann 90 Prozent der Zeit nutzlos irgendwo ‘rumsteht.
Aber nur weil man diese Einsicht teilt, wird man eben noch lange nicht selbst aktiv. Mit den Autos ist es letztlich wie mit dem Rauchen: Solange es erlaubt, erschwinglich und komfortabel ist, werden es die Menschen auch tun. Da ist ihnen sogar egal, dass sie die eigene Gesundheit und die Gesundheit ihrer Mitmenschen gefährden. Aber sobald man es verbietet, verteuert und weniger komfortabel macht, hört ein Großteil damit auf oder passt sich zumindest den neuen Gegebenheiten an. Natürlich würde es anfangs auch einen riesigen Aufschrei und ganz viel Gezeter geben. Man kann es eben nicht allen recht machen und Veränderungen werden grundsätzlich mit viel Skepsis betrachtet, und zwar vor allem dann, wenn man den Leuten etwas wegnehmen möchte. Aber vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und der ganzen Debatte um nachhaltige, zukunftsfähige und smarte Städte müssen wir diese Schritte über kurz oder lang sowieso unternehmen. Also fangen wir doch lieber früher als später damit an.
Sie sehen also den Gesetzgeber in der Pflicht?
Nicht nur, aber insbesondere. Wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass wir es hier mit grundlegenden und komplexen Veränderungen zu tun haben, die man nicht mal eben über Nacht einführen kann. Um die Verkehrswende erfolgreich anzugehen, müssen viele verschiedene Stakeholder aus der Politik, aber auch aus der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft beteiligt werden. Und da niemand so richtig weiß, wie’s geht, müssen wir uns auf eine ganze Reihe von Versuchen, Irrtümern und Verbesserungen einstellen. Entscheidend wird sein, dass wir neue technische Möglichkeiten sinnvoll nutzen, dass wir den Treibern des Wandels keine Steine in den Weg legen und dass wir geeignete Diskursräume schaffen.
Lassen Sie mich diese Punkte anhand von Beispielen erläutern: Selbstfahrende Autos haben großes Potenzial für die Verkehrswende. Aber solange wir einfach nur alte durch neue, fahrerlose Fahrzeuge ersetzen, haben wir leider gar nichts erreicht. Statt also vorrangig selbstfahrende Autos für Privatpersonen zu bauen, sollten wir uns auf den kollektiven Verkehr konzentrieren. Hier am InnoZ arbeiten wir zum Beispiel an unserem Olli, einem kleinen selbstfahrenden Shuttle.
Nächstes Beispiel: Carsharing liegt total im Trend und hat offensichtlich das Potenzial, die Zahl der Autos auf Berlins Straßen deutlich zu reduzieren. Dennoch verdient in dieser Stadt kaum ein Carsharer Geld, weil die Verkehrspolitik – wie eingangs besprochen – völlig verkehrt ist.
Nun zu den Diskursräumen: Es ist nicht selbstverständlich, dass Vertreter aus Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft erstens am gleichen Tisch sitzen und sich zweitens ernsthaft mit den Positionen der jeweils anderen Teilnehmer auseinandersetzen, um gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Wir können hier nur vorankommen, wenn wir geeignete Räume, Formate und Gesprächsangebote schaffen. Ein gutes Beispiel hierfür ist meiner Ansicht nach die sogenannte Agora Verkehrswende.
Letzte Frage: Was würden Sie denn eigentlich mit dem ganzen Raum anstellen, der plötzlich frei wäre, wenn wir weniger Autos hätten?
Keine Sorge, da finden wir genug Verwendungsmöglichkeiten. Wir hätten zum Beispiel mehr Platz für dringend benötigte Fahrradinfrastruktur. Es kann doch nicht angehen, dass einerseits immer mehr Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, andererseits aber kaum in die Radwege investiert wird. Ich wohne zum Beispiel am Kottbusser Damm. Gucken Sie sich doch die Situation dort an; das ist für Radfahrer doch ein regelrechtes Harakiri! Zweitens hätten wir mehr Raum für die öffentlichen Verkehrsmittel und natürlich vor allem für die Fußgänger. (Letztere werden bei der Diskussion um Verkehr häufig vernachlässigt.) Und schließlich könnten wir neue Grünflächen und andere Arten von Freiräumen schaffen.
Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.